Gästeführer*innen im Homeoffice - Kleine Herrschaften

Fotoateliers Ende des 19. Jahrhunderts in Gießen

von Gästeführerin Dr. Jutta Failing

Es muss in den 1890er-Jahren gewesen sein, als dieses Baby aus dem Ei „schlüpfte“ und seine Eltern es in das „Atelier für Photographie“ des Fotografen Chr. Zimmer am Ludwigsplatz 2 brachten. Statt auf einem Fell oder in den Armen der stolzen Mutter, drapierte der Fotograf das Kind in einem aufgebrochenen „Ei“. Wie entzückend und originell! Auf der Rückseite weist das Atelier auf eine weitere Spezialität hin: „Reproductionen in Oel, Aquarell & Pastell“. Als ab 1850 die Fotografie allmählich das gemalte Porträt ersetzte, eröffneten auch in Gießen Fotografen eigene Ateliers. Carl Hof (Bahnhofstraße 34), Atelier Victoria (Bahnhofstraße 64), Atelier Ph. Uhl (Frankfurter Straße 5) und Gustav Mook (Diezstraße 4) sind nur einige Namen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Selten sieht man lächelnde Menschen, die Fotografie war noch eine ernste Sache und die Belichtungszeiten recht lange. Brautpaare bekamen schon mal von hinten ein „Gestell“, um ja stillzustehen. Auffällig ist bei der Kinderfotografie der Aufwand der Inszenierung, neben Sonntagskleidung sieht man oft das Lieblingsspielzeug (Luftgewehr!).  Was aus den hier gezeigten kleinen Herrschaften wurde? Wir wissen es nicht. Die vervielfältigten Fotos gingen oft an die Verwandtschaft, und tauchen heute in ganz Deutschland in Archiven und im Handel auf. Wer kennt sie? Das Geschwisterbild zeigt, handschriftlich vermerkt: „Lise-Lotte und Marie-Louise Köhler, 14. Mai 1905.“

Kostümführung „Chloroform und Cocain – Liebigs Erben“

Für das „Ei“-Baby haben wir uns frei eine Biographie ausgedacht und in unsere neue Kostümführung durch das Gießener Klinikviertel „1913: Chloroform und Cocain – Liebigs Erben“ eingebaut. An der Seite von Peter Meilinger, der mit Zylinder und „Vatermörderkragen“ einen Bakteriologen darstellt, spiele ich die fiktive Lebensreformerin, Titanic-Überlebende, Gynäkologin und Kinderärztin Dr. Gloria van Tassel, die als erste Medizinerin in Deutschland den Kaiserschnitt durchführte. Legendär sind van Tassels Frauensprechstunden in der Klinikstraße zur „wirksamen“ Empfängnisverhütung. Das Baby mit dem Ei ist hier das Patenkind der Medizinerin.

Die Führung beginnt am Liebig-Museum (neu: Liebig-Laboratorium), wo das Fräulein Doktor über die Geschäftstüchtigkeit und unlautere Werbung des Ehepaars Liebig stichelt. Hatte es doch 1848 in der Gießener Presse für ein „orientalisches Haarbalsam“ geworben, das sich als Mittel empfahl „gegen das Ausfallen der Haare und zur Wiedererzeugung derselben“ (Tatsache!). Der prominente Chemiker mit seinem vollen Naturhaar war natürlich die beste Referenz – für das leider wirkungslose Mittel.

Fotos aus der Sammlung von J. Failing


Schlagworte: chloroform, Gästeführer im Homeoffice, Stadtführung, Stadtführungen
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